Die Fragestellung in der wissenschaftlichen Arbeit
Frischer Wind in den Segeln
Es war so ziemlich zur Halbzeit meiner Dissertation, als ich im Rahmen eines Forschungsworkshops einen hilfreichen Rat bekommen habe: „Immer hart an der Fragestellung segeln.“ Das Bild des Segelbootes, das hart am Wind mit hohem Tempo über das Wasser gleitet, begleitet mich seitdem sowohl bei meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit als auch bei der Betreuung von Haus- und Abschlussarbeiten.
In der Tat lässt sich Fragestellung bei einer wissenschaftlichen Arbeit gut mit dem Wind beim Segeln vergleichen. Die Fragestellung beschreibt nicht so sehr das Ziel der Arbeit, das man ja gerade bei größeren Schreibprojekten am Anfang noch gar nicht kennt, sondern die Fragestellung ist die Kraft, die antreibt und vorwärtsschiebt. Sie gibt die Richtung vor und eröffnet ein vorgehen und macht möglich zu unterscheiden, was wichtig und was unwichtig ist. Kurz um: Die Fragestellung sagt, wie die Segel aufgestellt werden müssen um möglichst viel Vortrieb zu bekommen.
Entwicklung einer Fragestellung
Eine Fragestellung entwickelt sich aus dem Thema einer Arbeit. Dabei ist entscheidend, dass das Thema durch die Fragestellung deutlich eingegrenzt wird. Es hilft von Anfang an bereits einen Schwerpunkt in seinen Recherchen zu setzen. Dies kann man nach den Kriterien der Zeit, des Ortes oder bestimmter inhaltlicher Aspekte tun.
Um eine Fragestellung zu entwickeln ist es notwendig über das Thema der Arbeit bereits grob orientiert zu sein, bestehende Arbeiten im Themenfeld zu kennen und auch die Forschungslücken beschreiben zu können. Eine solche Forschungslücke ist dann ein guter Ansatzpunkt für die eigene Fragestellung.
Fragestellung auf den Punkt bringen
Von diesem ersten Anhaltspunkt bis zur konkreten eigenen Fragestellung ist es dann einiges an Denkarbeit. Es geht darum zu überprüfen, ob die gewählte Richtung trägt, im zur Verfügung stehenden Zeit- und Textrahmen zu bearbeiten ist und entsprechend auf Quellen und Material zurückgegriffen werden kann. In diesem Prozess entsteht in der Regel eine erste Gliederung mit Ideen zur Bearbeitung der Fragestellung. Es geht tiefer in die Literatur konkreter an die Argumentation und Bearbeitungsmethode.
Ob die Fragestellung ausgereift ist, erkennt man am „WG-Küchen-Test“: Könntest du einem Mitbewohner aus einem anderen Fach kurz und bündig auf die Frage antworten, worüber du gerade deine Arbeit schreibst. Versteht er was du bearbeitest? Erkennt er was daran interessant ist? Kannst du eine einfache Frage formulieren, die deine Arbeit auf den Punkt bringt?
Häufig werde ich gefragt, ob die Fragestellung wirklich als Frage formuliert werden muss. Die Antwort lautet: Ja! Man könnte natürlich auch statt einer Fragestellung von einem Anliegen der Arbeit sprechen, aber auch dieses kann man in Forschungsarbeiten in der Regel mit einer Frage formulieren.
Was macht eine gute Fragestellung aus?
Je nach Themengebiet ist die Fragestellung natürlich sehr unterschiedlich. Eine gute Fragestellung ist jedoch an ein paar Merkmalen zu erkennen:
- Eine Fragestellung sollte immer einen Fachbezug aufweisen. Das mag jetzt trivial klingen, aber gerade in den Sozialwissenschaften sind Themen häufig in mehreren Disziplinen angesiedelt. Hier ist es dann entscheidend die jeweils charakteristische Perspektive für das Fach herauszuarbeiten und in der Fragestellung zu berücksichtigen. So kann eine Fragestellung über Kinder- und Jugendliteratur prinzipiell in der Germanistik oder Pädagogik angesiedelt sein. Es ist eben die Frage der Perspektive auf den Gegenstand, die entscheidend ist.
- Eine Fragestellung sollte immer zum Umfang passen. Gerade für Seminar- und Hausarbeiten bzw. die im Umfang häufig sehr limitierten BA-Arbeiten ist der Umfang schon in der Fragestellung mit zu bedenken. Die Erfahrung zeigt: Die Fragestellung lieber enger und kleiner anlegen und dafür in die Tiefe gehen und genau sein. Bei einer zu großen Fragestellung wird die Arbeit häufig oberflächlich. Das ist schade!
- Eine Fragestellung sollte offen sein. Wenn man eine Frage stellt, die mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ zu beantworten ist, so ist man versucht sie in diesen Kategorien zu beantworten. Nur die wenigsten Fragen in den Geistes- und Sozialwissenschaften lassen sich jedoch in diesen Kategorien beantworten (mir fällt jetzt gerade keine ein). Die Frage nach Zusammenhängen, Möglichkeiten, Chancen und Risiken, Perspektiven oder ein Vergleich von zwei Ansätzen ist da eleganter und kommt der argumentativen Praxis unserer Fächer näher.
- Eine Fragestellung sollte einen rote Faden für die Arbeit bieten. So ergibt sich aus einer guten Fragestellung häufig die Gliederung von alleine und aus einem didaktischen Anliegen des Schreibenden heraus: Was muss der Leser in welcher Reihenfolge wissen, damit er eine Antwort auf die Fragestellung bekommt.
- Nicht zuletzt sollte dir die Fragestellung Spaß machen. Natürlich ist Schreiben ein anstrengender Prozess, auf den man nicht jeden Tag gleich viel Lust hat. Aber ein Interesse an der Frage, ein Bezug zu deinem Leben oder zu deiner späteren Tätigkeit hilft enorm. Denn im Idealfall erarbeitet man sich im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit ja Kenntnisse, die auch über die Arbeit hinaus sinnvoll sind.
Fragestellung als Orientierung für die Arbeit
Es lohnt sich sehr in die Entwicklung einer Fragestellung viel Zeit zu investieren. Wie ja bereits deutlich geworden ist, ist das keine Zeit, die man einfach so am Schreibtisch sitzt und vor sich hindenkt, sondern eine Zeit in der man sich intensiv in die Literatur vergräbt und das Fundament für die Arbeit legt.
Dabei ist es gut möglich, dass sich im Verlauf des Arbeitsprozesses die Fragestellung noch ‚bewegt‘. Denn auch die eigene Haltung verändert sich im Laufe des Prozesses: man vertieft sich in ein Thema, es werden andere Aspekte wichtig, es gibt neue Einsichten und vieles mehr. In der Fragestellung beweglich zu bleiben, ohne sie leichtfertig bei jeder Gelegenheit über Bord zu werfen, sondern sie als Orientierungspunkt zu nutzen und zu schauen, wohin sich die Arbeit bewegt. Das ist die Kunst.
Mit der Fragestellung hat man einen Kompass mit dem sich, gerade auch in umfangreichen und langfristigen Arbeiten, immer wieder kontrollieren lässt, ob man noch auf Kurs ist. Sie hilft dabei einzugrenzen welche Theoriebezüge, welche Daten und welche Forschungsmethoden auf dem Weg nützlich sind.
Nicht nur bei mir selbst, sondern auch in der Beratung von Studierenden erlebe ich häufig, dass die Fragestellung entscheidend ist für die Motivation an der Arbeit. Wenn das Meer spiegelglatt ist und sich kein Lüftchen bewegt, dann kann ich mich als Segler noch so viel anstrengen das Schiff wird sich nur langsam bewegen.
Wann immer ich ein Motivationstief habe, schaue ich mir deswegen immer die Fragestellung bzw. das Anliegen meiner Arbeit an. Wenn mir klar ist von wo der Wind weht, kann ich ihn nutzen und hart am Wind segeln.
Photocredit: Alin Meceanu